Weites Inklusionsverständnis als Grundlage
Entsprechend einem weiten Inklusionsverständnis in Anlehnung an die UNESCO sollen allen Menschen – unabhängig von Geschlecht, Behinderung, ethnischer Zugehörigkeit, besonderen Lernbedürfnissen, sozialen oder ökonomischen Voraussetzungen – die gleichen Möglichkeiten offenstehen, an qualitativ hochwertiger Bildung teilzuhaben und ihre Potenziale zu entwickeln. Bildungssysteme sollten die Bedürfnisse aller Lernenden berücksichtigen und sich diesen anpassen. Inklusionsprozesse rücken damit die unterschiedlichen Bedürfnisse aller Lernenden in den Mittelpunkt. Vielfalt wird als Chance für Lern- und Bildungsprozesse angesehen.
Ziele und Gegenstand des Projekts
IN VIA Deutschland e.V. verfolgte mit diesem Projekt in drei Modellregionen (Caritasverband Essen, IN VIA Freiburg, IN VIA Quakenbrück) das Ziel, innerhalb von 3 Jahren möglichst viele Schulen auf den Weg zu einer »Schule für Alle« zu bringen und sie in diesem Entwicklungsprozess zu begleiten. Eine »Schule für Alle« zeichnet sich durch die Erfüllung von 10 Mindestkriterien aus, wie z. B. multiprofessionelle Teamarbeit, Offenheit für alle Kinder, Einbindung in außerschulische Kooperationsstrukturen etc. Das Ziel sollte durch die Initiierung und systematische Gestaltung einer inklusiven Bewegung auf kommunaler und regionaler Ebene erreicht werden
Die Gesamtheit der Schulen kleinerer bis mittelgroßer Gemeinden sollte so in Bewegung gebracht werden. Es sollen damit zivilgesellschaftliche Netzwerke zur Realisierung einer inklusiven Bildungslandschaft geschaffen werden. Methodisch erfolgte dies in Rückgriff auf den Ansatz des Community Organizing: Visionen und die Tatkraft engagierter Personen aus dem Bildungs- und Sozialbereich sollten zusammengebracht werden und zur Realisierung regionaler Entwicklungs- und Veränderungsprozesse gebündelt werden.
Es ging damit in diesem Projekt nicht nur um die individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen, sondern vor allem darum, zugleich Inklusions- und Exklusionsmechanismen auf gesellschaftlicher Ebene zu analysieren und aufzudecken.
Aufgaben der Wissenschaftlichen Begleitung
Die MSH Medical School Hamburg begleitete diesen dreijährigen Prozess wissenschaftlich im Rahmen einer formativen Evaluation.
Gegenstand der Evaluation waren Kennzahlen zur Beurteilung der Struktur- und Ergebnisqualität, teilnehmende Beobachtungen bei Netzwerkaktivitäten sowie subjektive Einschätzungen der regionalen Akteure. Die Daten wurden zu Beginn und gegen Ende des Projekts mittels qualitativer Interviews und Gruppendiskussionen sowie Dokumentenanalysen erhoben. Ziel der Erhebung war es, Gelingensbedingungen zur Implementierung einer Schule für Alle zu ermitteln.
Die Ergebnisse der Datenerhebungen, -auswertungen und -analysen wurden im Rahmen von jeweils zwei Entwicklungswerkstätten an die Projekt-Akteure zurückgespiegelt. Dies beinhaltete auch die fachliche Kommentierung und gemeinsame Diskussion von Konsequenzen für die Weiterentwicklung des Projekts.
Ausgewählte Ergebnisse
Im Folgenden werden einige Eindrücke und Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung wiedergegeben.
„Netzwerke durch Beziehung erschließen“
Wer zeigt eine besondere Leidenschaft für das Thema „Inklusion“? Wer ist in hohem Maße engagiert? Wer „brennt“ für das Ziel, eine Schule für Alle zu realisieren?
In einem ersten Projektschritt wurden persönliche Gespräche mit insgesamt 168 sogenannten Schlüsselpersonen in den einzelnen Regionen geführt. Daraus erschloss sich ein komplexes Netzwerk von Personen, die auf unterschiedlichen Ebenen agieren: Schulleitungen, Lehrkräfte und (Schul-)Sozialarbeiter*innen, Personen aus dem regionalen Bildungsmanagement, der Lokalpolitik und der verbandlichen Arbeit, Eltern- und Schülervertreter*innen etc.
Erstaunliches Ergebnis: Dieses Netzwerk war in dieser Form bisher nicht sicht- und greifbar – trotz zahlreich bestehender Arbeitsgruppen und Fachausschüsse. Der Zugang über die persönliche Leidenschaft der Personen – und nicht über formale Zuständigkeiten – hat diese Personen in einer neuen Form zusammengebracht. An vielen verschiedenen Stellen engagieren sich eine Vielzahl von Menschen zu ähnlichen Anliegen– häufig ohne voneinander zu wissen.
„Für mich ist es das einzige Netzwerk, dass es berufs- und professionsübergreifend hier in der Region zum Thema Inklusion gibt, um Schule zu verbessern.“ (Schulsozialarbeiter, 1. Messzeitpunkt)
Multiprofessionalität in Netzwerken
Wie lassen sich die verschiedenen Sichtweisen und Handlungslogiken dieser Personen und der Systeme, in denen sie agieren, zusammenzubringen? Wie lässt sich ein systemübergreifender Zugang und multiprofessioneller Ansatz umsetzen?
„Das verbinde ich auch mit dem Netzwerk „Schule für Alle“. Also schulische und außerschulische Partner zusammenzubringen, um letztendlich Bildungsbeteiligung durch die Zusammenarbeit zu erhöhen.“ (Leitung Regionales Bildungsbüro, 1. Messzeitpunkt)
Genau dies stellte die Attraktivität dieses Netzwerks dar: Die Komplexität des Anliegens „Schule für Alle“ erfordert multiprofessionelle Zusammenarbeit. Nur so lässt sich eine wirksame Durchschlagskraft für regionale Veränderungsprozesse entwickeln. Hierdurch wirkte das Netzwerk zugleich als Motivationsfaktor zum Mitwirken. Es wurde als Ort zur Schaffung eines großen Potenzials für Kreativität angesehen:
„Ich sah dort schon kreative Köpfe. Durch die Multiprofessionalität sind dadurch Chancen drin. Also andere Dinge aus einer anderen Perspektive zu hören.“ (Vertreterin außerschulischer Bildungsträger, 1. Messzeitpunkt)
Schlüsselpersonen eine Emotionale Heimat bieten
Wie wird das Netzwerk zum „Ort der Inspiration“? Wie lassen sich „Energetisierungen“ schaffen?
„Ganz entscheidend ist der Zugang auf der direkten, menschlichen Ebene, wo man Gleichgesinnte finden muss, um so etwas zum Klingen zu bringen“ (Schulleitung, 1. Messzeitpunkt).
Kernfaktor ist hier die Schaffung einer emotionalen Bindung zwischen den Akteuren. Durch regelmäßige Netzwerktreffen einen Raum für Austausch zu bieten, als Ausgleich zu den Frustrationen, die im beruflichen Alltag bezogen auf die Umsetzung von Inklusion erlebt werden.
Ist diese Bindung entstanden, dient das Netzwerk den Akteuren schließlich als wichtiger Ressourcenpool und Ort der Kompetenzbündelung:
„Das Netzwerk holt mich ein bisschen aus dem Einzelkämpfertum vor Ort raus. Empowerment im eigenen Wirkungsbereich.“ (Schulsozialarbeiter, 1. Messzeitpunkt).
Am Ende der Projektlaufzeit sind so insgesamt rund 300 Personen in den drei Regionen aktiviert worden: Sie sind in Kontakt, informieren, inspirieren und stärken sich gegenseitig. Sie reflektieren und erweitern ihren Blick auf Inklusion.
„Ich habe nach dem Netzwerktreffen realisiert, dass ich in der gesamten Schulzeit nie drüber nachgedacht habe, dass es immer noch andere gibt oder dass generell dieses Vermischen viel wichtiger ist. Dass man nicht mehr in den ganzen Kategorien denkt: Realschule, Gymnasium, Sonderschule. Dass man generell nicht aus seinen Grenzen rausbricht und die anderen Schularten auch wahrnimmt (…) Das hat mir ein bisschen mehr meine Augen geöffnet.“ (Schülersprecher, 2. Messzeitpunkt)
In die Tiefe und in die Breite wirken
Wie lassen sich aus der Vielzahl von Einzelaktivitäten Wirkungen in die Breite erzielen? Die Unterschiedlichkeit der Modellregionen hat eine Vielfalt an Aktivitäten zur Erreichung der Projektziele hervorgebracht. Diese haben auf unterschiedlichen Ebenen angesetzt und sich unterschiedlicher Methoden bedient. Einige Beispiele zur Verdeutlichung:
- Durch die Implementierung von „Familienklassenzimmern“ in einzelnen Schulen ist es der Modellregion Nord gelungen, punktuell individualisierte Lernangebote in der Schulkultur zu verankern. Der Diversität der Schülerschaft gerecht werden und die Botschaft senden: „Alle Kinder (inklusive ihrer Eltern) sind willkommen.“ – diese Mindestkriterien wurden durch das Familienklassenzimmer ganz konkret in Schulen implementiert.
- „100 Grundschulen für inklusive Bildung“ – mit dieser Kampagne wurde in der Region Süd das Ziel verfolgt, 100 Vorreiter aus dem Grundschulbereich zu versammeln, die in ihrer täglichen Arbeit zeigen: Gemeinsames Lernen kann gelingen! Anlass war ein Kernziel des Projektes: Inklusiven Unterricht an allen Grundschulen Realität werden zu lassen, damit alle Kinder in ihrem eigenen nahen Sozialraum zur Schule gehen können.
- Gesellschaftliche Sensibilisierung schaffen und Schüler*innen eine Bühne bieten – dies ist der Region Mitte mit ihrem Aktionstag zum Tag der Kinderrechte gelungen. In der Essener Innenstadt gab es Veranstaltungen und Infostände an einem zentralen Ort. Schüler*innen hatten hier die Möglichkeit, durch musikalische Darbietungen, Redebeiträge, Fotowände etc. ihre Sicht auf und ihre Forderungen an eine Schule für alle auszudrücken.
Die Beispiele verdeutlichen eine Besonderheit des Projekts: Durch die Vielzahl derartiger Aktionen konnten punktuelle Wirkungen in die Tiefe genauso realisiert werden wie Wirkungen in die Breite und in den öffentlichen Raum hinein. Gleichzeitig gelang eine Erhöhung der Schlagkraft: durch die Ausrichtung eines gemeinsamen Projektziels, der durch den Slogan „Schule für Alle“ einheitlich transportiert wurde, durch die Bündelung dieser Aktivitäten im Rahmen der Netzwerkarbeit, und durch die Fokussierung auf besondere Anlässe (z.B. Tag der Kinderrechte), um zeitgleich an verschiedenen Orten aktiv zu sein.
Inklusion im Alltag verstetigen
Im Rahmen besonderer Aktionen fällt es häufig leichter, Neues auszuprobieren und zu erleben. Aber wie lassen sich diese Erfahrungen auch in Alltagshandlungen überführen? Wie lassen sich lang bewährte Handlungspraktiken nachhaltig verändern?
Das Projekt zeigt anhand vieler Beispiele, welche Rolle Ritualisierungen spielen, um dem Thema Inklusion einen festen Platz im Arbeits-Alltag der Lehrkräfte zu verschaffen. Ein Beispiel:
„Um das Thema Inklusion nach Projektende dauerhaft präsent zu halten, haben wir eingeführt, dass wir unsere Treffen immer mit einer kurzen Diskussion zu einer Frage aus dem Index für Inklusion beginnen. Und das funktioniert nun schon seit fast 1,5 Jahren. (…) Das ist so wie Zähne putzen. Eigentlich lästig, aber wirksam. Man will es schnell hinter sich haben, aber jeder nimmt etwas mit aus der Diskussion (…).“ (Vertreter Caritas Ortsverband, 2. Messzeitpunkt)
Fazit: Inklusion gelingt, wenn der Funke überspringt:
Wenn Inklusion langfristig gelingen soll, so ein Fazit aus dem Projekt, ist es wichtig, mit unterschiedlichen Aktionen die Lebendigkeit rund um das Thema dauerhaft zu erhalten, Inklusion immer wieder in neuen Kombinationen erlebbar zu machen und beständig Funken erzeugen. Entsprechend das Resümee der Projektleitungen:
„Das Thema Inklusion ist sehr komplex und teilweise als Begriff in der öffentlichen Diskussion auch verbraucht. Daher ist keine technokratische Debatte über Strukturen und Ressourcen nötig, sondern ein Funken, der überspringt und die Menschen im Herzen bewegt und die Menschen bewegt „Ja“ zur Inklusion zu sagen.“
Studienleitung
Wissenschaftliche Mitarbeit
Studentische Mitarbeit
Die Finanzierung der wissenschaftlichen Begleitung erfolgt durch IN VIA Deutschland e.V. mit Fördermitteln der Aktion Mensch Stiftung.
Zum Weiterlesen
Bührmann, T. / Schmidt, U. (2019):
Inklusion fördern – Leidenschaft vernetzen. Beitrag im Caritas Jahrbuch 2020
Bührmann, T. / Schmidt, U. (2019):
Gibt es ein Rezept für das Gelingen von Inklusion? In: Neue Caritas, Heft 7/2019, S. 23-25
Bührmann, T.; Schmidt, U. (2018):
Community Organizing – Eine Methode für kommunale Gestaltungsprozesse auf dem Weg zur „Schule für Alle“. In: Der pädagogische Blick Heft 2/2018, S. 110–117
Weitere Informationen zum Bundesnetzwerk und den Modellregionen: www.schule-fuer-alle.com